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19.11.2012
St. Elisabeth-Stiftung, Bad Waldsee

Der Gesellschaft den Spiegel vorhalten

BIBERACH – Lang anhaltender Applaus des zahlreich erschienenen Publikums in der Sinn-Welt des Biberacher Jordanbades hat es dem Referenten gedankt: Dr. Peter Radtke hatte gut eine Stunde über das schwierige Thema „Kein Mensch ist perfekt – wird sind alle behindert“ gesprochen und anschließend noch Fragen unter der Moderation des Mediendirektors von Schwäbisch Media, Joachim Umbach, beantwortet. Ein Thema, dass die Menschen bewegt, gerade bei der St. Elisabeth-Stiftung, die diesen Abend in der Reihe „125 Jahre Heggbach: Menschen mit Behinderung - Mitten im Leben!“ organisiert hatte.

Der 69-jährige Radtke kam mit der Glasknochenkrankheit zur Welt, einer genetisch bedingten Bindegewebskrankheit. Seit den 1970er Jahren engagiert sich der studierte Germanist für Menschen mit Behinderung in den unterschiedlichsten Funktionen. So ist Peter Radtke Schauspieler, Regisseur und Publizist, aber auch Mitglied des Deutschen Ethikrates.  Matthias Ruf, Vorstand der Stiftung, stellte in seiner Einführung die Frage, ob es überhaupt den perfekten Menschen gäbe. Was verbirgt sich hinter diesem Perfektionswahn, den wir gegenwärtig in unserer Gesellschaft erleben würden? Peter Radtke dagegen habe Karriere mit 99 Brüchen gemacht, so der Titel seiner Autobiographie.

Radtke versuchte in der voll besetzten Sinn-Welt im Jordanbad die Aussagen „Kein Mensch ist perfekt“  und „Wir sind alle behindert“ zu vergleichen, wie er es als Literaturwissenschaftler schließlich gelernt habe.  Immerhin zehn Prozent der deutschen Bevölkerung seien behindert. Es gehe also keineswegs um eine Minderheit.

Perfektion sei ein Ideal, aber irgendwas komme immer dazwischen. Gott sei Dank, wie Radtke feststellte. Sonst gäbe es keine Fortentwicklung, keine Unterschiede. Die Gesellschaft bestünde nur noch aus Arnold Schwarzeneggers und Brigitte Bardots. „Wollen wir das wirklich?“, stellte Radtke die entscheidende Frage in den Raum. 

Diese Diskussion sei natürlich in den vergangenen Monaten enorm verschärft worden bei der Frage um die Präimplantationsdiagnostik (PID). Diese Debatte hat auch den Bundestag beschäftigt. Hier seien Politik und Gesellschaft gespalten. Radtke selbst outete sich als vehementer Gegner der PID. Behinderung sei eine Lebensform, die man annehmen müsse und keine Krankheit. 200 bis 300 Einzelschicksale jährlich seien allemal besser, als die Gefahren der PID einfach zu akzeptieren. Eine Meinung, die er auch bei der Anhörung im Parlament vertreten habe. Trotz Diskriminierung von Behinderten, die es in der Gesellschaft noch immer zu Hauf gäbe und die nachwirke bei jedem Einzelnen. 

Auch wenn Radtke einräumte, dass sich doch einiges gebessert hätte in den vergangenen 20 Jahren. Im ÖPNV, in der ambulanten Pflege, in der modernen Technologie oder durch die zunehmende Anzahl von behinderten Schülern in der Regelschule etwa. Alles wunderbar, aber eben nicht die große Lösung. Erst wenn man den Weg aus der Anonymität geschafft habe, wenn Behinderung als ein Teil des gesellschaftlichen Lebens gelte, wäre man ein Stück weiter gekommen. 

Man dürfe auch nicht Integration und die viel zitierte Inklusion verwechseln. Inklusion setze immer eine Systemveränderung voraus. Warum sollten eigentlich nichtbehinderte Schüler nicht  in einer Förderschule unterrichtet werden? Behinderte könnten so und auf anderen Wegen der Gesellschaft immer wieder einen Spiegel vorhalten. Radtke illustrierte dies mit der Bemerkung, dass am Anfang der Menschheit wohl ein behinderter Affe stand, der wegen einer Fußverletzung aufrecht gehen wollte. Er forderte den Einzelnen auf, die subjektive Wahrnehmung zu verlassen. Nur dann wären die Aussagen deckungsgleich: „Kein Mensch ist perfekt, ist gleich - wir sind alle behindert.“

 

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