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21.01.2015
Heggbacher Wohnverbund

„Richtig ist, was für die Menschen das Beste ist“

HEGGBACH – Eine Delegation der CDU-Landtagsfraktion hat Heggbach besucht. Die acht Abgeordneten interessierten sich für die aktuelle Situation von größeren Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. „Richtig ist, was für die Menschen mit Behinderungen das Beste ist“, betonte Wilfried Klenk, sozialpolitischer Sprecher der Fraktion. „Es gibt Menschen, die Komplexeinrichtungen brauchen, weil sich ihr Alltag sonst verschlechtern würde.“

264 Menschen mit Behinderungen leben derzeit in Heggbach und werden dort von den Mitarbeitern des Heggbacher Wohnverbunds der St. Elisabeth-Stiftung begleitet und unterstützt. Damit ist Heggbach eine der sogenannten Komplexeinrichtungen in Baden-Württemberg – das sind zumeist über Jahrzehnte gewachsene große Einrichtungen, die eine Vielfalt von vernetzten Dienstleistungen für viele Menschen mit geistigen oder mehrfachen Behinderungen an einem Standort anbieten. Im Zuge der Konversionsinitiative der aktuellen Landesregierung sollen Komplexeinrichtungen zunehmend dezentralisiert werden – das heißt konkret, dass Wohnplätze dort abgebaut und in kleinere Einheiten in Städte und Dörfer verlagert werden sollen.

Vor diesem Hintergrund haben sich acht Abgeordnete der CDU-Landtagsfraktion nach Heggbach aufgemacht, um sich vor Ort selbst ein Bild von der Arbeit einer Komplexeinrichtung zu machen: Klaus Burger (Wahlkreis Sigmaringen), Dr. Marianne Engeser (Wahlkreis Pforzheim, Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren), Wilfried Klenk (Wahlkreis Backnang, sozialpolitischer Sprecher der Fraktion und Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren), Rudolf Köberle (Wahlkreis Ravensburg, Minister a.D.), Paul Locherer (Wahlkreis Wangen), Ulrich Müller (Wahlkreis Bodensee, Minister a.D.), Peter Schneider (Wahlkreis Biberach) und Dr. Monika Stolz (Wahlkreis Ulm, Ministerin a.D.).

Die zentrale Frage beim Besuch der Delegation: Werden Komplexeinrichtungen weiter gebraucht? Annemarie Strobl, Vorstand der St. Elisabeth-Stiftung, konnte diese Frage nur bejahen: „Orte wie Heggbach sind ein idealer Lebensraum für Menschen mit herausforderndem Verhalten. Für bestimmte Menschen ist es das Richtige, in einer Komplexeinrichtung zu leben.“ Ein Beispiel: Eine Frau, die in einem Wohnhaus in Biberach bei ansonsten sehr toleranten Nachbarn auf Ablehnung stieß, weil sie sehr viel und dauerhaft laut schreit. „In Heggbach hat sie ihren Platz gefunden und hat hier mehr Freiheit, als sie in der Stadt je hätte.“

Renate Weingärtner, Leiterin des Heggbacher Wohnverbunds, betonte, dass große Einrichtungen mit dem entsprechenden Knowhow und spezialisierten Angeboten komplementär neben dezentralen kleinen Wohngemeinschaften und Wohnhäusern stehen: „Dezentrale Wohnangebote werden bei uns von Heggbach aus schon lange umgesetzt – vor 40 Jahren haben die damaligen Heggbacher Einrichtungen in Biberach die erste Außenwohngemeinschaft für Menschen mit Behinderungen eröffnet.“ Insgesamt 235 Menschen mit Behinderungen werden aktuell an anderen Standorten begleitet – dazu kommen zahlreiche ambulante Angebote.

Bei einer Führung durch Heggbach besuchte die Delegation zwei Wohngemeinschaften. Für den Nachmittag war zudem eine Gesprächsrunde mit verschiedenen Trägern von Komplexeinrichtungen im Raum Oberschwaben angesetzt – gerade in dieser Region sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts viele solcher Einrichtungen entstanden. In Heggbach vertreten waren Mariaberg e.V., die Stiftung Liebenau, Diakonie Pfingstweid e.V.,  Haus Nazareth Sigmaringen, die Theresia-Hecht-Stiftung, die Zieglerschen und die Landratsämter des Landkreises Ravensburg und des Bodenseekreises.

Bei der Gesprächsrunde wurde deutlich, in welchem Dilemma große Einrichtungen derzeit stecken: Die Fortentwicklung von Komplexeinrichtungen ist kaum möglich, weil es keine Zuschüsse gibt – die Investitionsförderrichtlinien des Landes sehen schlicht keine Komplexeinrichtungen mehr vor. Auf der anderen Seite steigt die Nachfrage nach den spezialisierten Leistungen gerade dieser Einrichtungen aber ständig weiter.

Bei der Koordinierung dieser Nachfrage fehlt nach einhelliger Meinung zudem eine ordnende Hand: Seit der Auflösung der Landeswohlfahrtsverbände sind die Landkreise für die Behindertenhilfe zuständig. Belegt werden die Einrichtungen aber über die Landkreisgrenzen hinweg – manchmal kommen über 50 Prozent der Klienten aus anderen Landkreisen.

Gerade aus dem erweiterten Raum um Stuttgart herum kommen viele Menschen mit Behinderungen nach Oberschwaben. Ein Grund dafür ist, dass es in den dortigen Landkreisen an spezialisierten Angeboten fehlt – ein Wissenstransfer mit dem Aufbau entsprechender Strukturen ist aufwändig und langwierig. Zum anderen ist es aber auch schwierig, gerade in Städten und Ballungsräumen an bezahlbaren Wohnraum für Menschen mit Behinderungen oder finanzierbare Grundstücke für entsprechende Einrichtungen zu kommen – das wurde bei der Diskussion sehr deutlich.

Kritisiert wurde auch die Behauptung, dass Komplexeinrichtungen und Inklusion sich widersprechen: Komplexeinrichtungen könnten durchaus Teil eines inklusiven Umfelds sein, wurde argumentiert. In vielen Fällen eröffneten große Einrichtungen mit ihrem speziellen Fachwissen erst Perspektiven für Inklusion.

Gefordert wurde zudem, das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen wirklich ernst zu nehmen. Gerade die Träger von Schulen machten deutlich, dass sich ein Großteil der Eltern für ihre Kinder mit Behinderung gar keinen Wechsel von der Sonder- in die Regelschule wünschen. Zitiert wurde in diesem Zusammenhang eine Studie, die eine Integration im Klassenverbund bis zur Pubertät belegt – spätestens dann würden Kinder mit Behinderungen aber zunehmend zu Außenseitern, die nicht mehr zu gemeinsamen außerschulischen Aktivitäten eingeladen würden.

„Die Diskussion um die Zukunft von Komplexeinrichtungen muss weitergehen“, forderte Annemarie Strobl. „Es wäre fatal, die über Jahre gewachsenen Kompetenzen und Stärken dieser Einrichtungen für eine falsch verstandene Inklusion zu opfern.“

 

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