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29.01.2020
Heggbacher Wohnverbund

„Erinnerung lebensnotwendig wie Wasser“

HEGGBACH - Seit langem erinnert alljährlich am 27. Januar ein Gottesdienst im Heggbacher Wohnverbund der St. Elisabeth-Stiftung der Euthanasie-Opfer, die 1940 von dort nach Grafeneck deportiert wurden. 173 geistig und mehrfach behinderte Frauen und Männer fanden den Tod.

Nach Schwester Mirjams liturgischer Eröffnung begrüßte Renate Weingärtner, Leiterin des Heggbacher Wohnverbundes, in der voll besetzten Kirche St. Georg alle, die den Gedenkgottesdienst in der Kirche St. Georg mitfeierten, darunter viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Bewohnerinnen und Bewohner. Sie betonte, dass wir alle in der Verantwortung stehen, das Wissen um den Holocaust weiterzugeben, zumal es bald keine Überlebenden mehr geben wird. Sie zitierte den Auschwitz-Überlebenden Noach Flug: „Die Erinnerung ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. Sie ist immer konkret: Sie hat Gesichter vor Augen und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären“. Am Heggbacher Gedenktag seien die Gedanken besonders bei den Menschen, die in Grafeneck getötet wurden. „Am frühen Morgen des 9. September 1940 wurden 54 männliche Bewohner in die Tötungsanstalt gebracht. Noch zwei Mal kamen die grauen Busse nach Heggbach: Am 14. September bestiegen sie 77 Frauen und am 30. Oktober 17 Männer und 25 Frauen“, erinnerte Weingärtner. 

Kommunikationspädagogin Rita Schultheiß erklärte, man habe bewusst die Krippe vor dem Altar stehen lassen. „Wir dürfen unsere Fürbitten dorthin zu Jesus bringen“. Nicki Bechstein, die in Heggbach wohnt, las die Fürbitten für die Opfer der nationalsozialistischen Konzentrationslager, für Juden, politisch Verfolgte, Sinti und Roma, für alle, die sich dem Unrecht entgegen stellten, und endete: „Wir bitten für alle Menschen, die unter Verfolgung, Krieg und Terror leiden. Wir bitten für alle, die unter Antisemitismus und Ausgrenzung leiden. Wir bitten um beherztes Handeln, wo heute noch über wertes und unwertes Leben entschieden wird.“ Nach jeder Fürbitte wurde eine Kerze entzündet und vor die Krippe gestellt.

Anschließend sprach Ralf Weber vom Team der Seelsorge der St. Elisabeth-Stiftung davon, wie Menschen im Nationalsozialismus die Würde genommen wurde und las Worte aus dem Markus Evangelium. Rita Schultheiß übersetzte in Gebärdensprache.

Helen Berg vom Heggbacher Wohnverbund, zuständig für Sozialraumorientierung, zitierte aus einer Predigt des damaligen Bischofs von Berlin, Konrad Graf von Preysing. „Diese Liebe darf niemanden ausschließen, schon gar nicht deshalb, weil er vielleicht eine andere Sprache spricht oder fremden Blutes ist. Jeder Mensch trägt das Ebenbild Gottes in seiner Seele. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Liebe“. Berg nannte ihn, der sich 1941 gegen die Morde des Euthanasieprogramms gewandt hatte, „ein Licht im Dunkeln“.

Schwester Mirjam lenkte die Aufmerksamkeit auf die permanente Gedenkstätte auf der Ostseite der Kirche. „Jetzt sehen wir einen dunklen Streifen, morgen früh wird die Sonne die Farbe zum Leuchten bringen.“ Passend dazu erklang das Lied „Herr, du bist die Hoffnung, wo Leben verdorrt, auf steinigem Grund wachse in mir, sei keimender Same, sei sicherer Ort, treib‘ Knospen und blühe in mir.“

Nach dem von Schwester Mirjam ausgeteilten Segen bedankte sich Renate Weingärtner beim Seelsorge-Team und allen, die mitgewirkt hatten. Ihr besonderer Dank galt dem Trio Kapellenklang, das auf der Orgelempore den Gottesdienst mit Gitarre (Claus Machleidt), Gesang und Sopransaxophon (Simone Salzer) sowie Cello (Mirjam Knaus) sehr berührend gestaltet hatte.

Tötungsanstalt Grafeneck

Das damalige Samariterstift in Schloss Grafeneck bei Gomadingen, abgeschieden im Wald, wurde am 31. Oktober 1939 beschlagnahmt, die rund hundert Pfleglinge brachte man ins Kloster Reute. Den Schwestern von Reute war vier Tage zuvor vom Württembergischen Innenministerium befohlen worden, ihr Exerzitienhaus St. Elisabeth sofort zu räumen. (Alle Patienten, die in Reute untergebracht worden waren, überlebten). Bis Januar 1940 wurden im Schloss Wohn- und Verwaltungsräume eingerichtet, auf dem Gelände eine Holzbaracke mit rund hundert Betten erbaut. Daneben ein Krematoriumsofen und ein Vergasungsschuppen. Bereits am 18. Januar begannen die Ermordungen in einer als Duschraum getarnten Gaskammer. Die Opfer kamen aus 48 Einrichtungen für Behinderte und psychisch Kranke aus Baden-Württemberg, aus Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Am 13. Dezember 1940 wurde das letzte der 10.654 Opfer verbrannt. Heute existieren in Grafeneck eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die Ermordeten.

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