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17.06.2010
St. Elisabeth-Stiftung, Bad Waldsee

Pflege der Zukunft muss hochflexible Unterstützungssysteme bieten

Das Leistungsangebot in der Altenpflege muss wesentlich vielfältiger werden – das war die zentrale Botschaft einer Podiumsdiskussion am Montagabend in der Sinn-Welt beim Jordanbad. Unter dem Motto „Praxis trifft …“ hatte die St. Elisabeth-Stiftung Experten – darunter auch Landessozialministerin Dr. Monika Stolz – mit rund 70 in der Pflege Tätigen zusammengebracht, um sich über die Pflege der Zukunft auszutauschen.

„Wir wissen, dass immer mehr alte Menschen Pflege benötigen werden“, sagte Annemarie Strobl, Vorstand der St. Elisabeth-Stiftung, bei der Einführung in die Veranstaltung. „Wir wissen, dass wir uns auf „neue“ pflegebedürftige alte Menschen einstellen müssen: Menschen mit geistiger Behinderung, mit einer psychischen Erkrankung, mit Demenz und mit Migrationshintergrund. Wir wissen, dass die Bedeutung der Familie als soziales Netz für die Pflege abnimmt. Und wir wissen gleichzeitig auch, dass die Ressourcen für die Pflege begrenzt sind.“ Die Konsequenz:  Die Pflege werde sich in Zukunft ändern müssen und auch werden, so Strobl. Mehr Angebote vor dem Einzug ins Altenheim, neue Wohnformen für alte Menschen, bessere Unterstützung für pflegende Angehörige - welche Veränderungen es geben wird, klang in den Diskussionsbeiträgen am Montagabend an.

In der Altenpflege hat sich in den letzten Jahren bereits viel getan: „Wir haben in zehn Jahren 31.000 zusätzliche Pflegeplätze im Land geschaffen“, betonte Dr. Monika Stolz, Ministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familien und Senioren des Landes Baden-Württemberg. „In einigen Regionen wird es auf absehbare Zeit sogar ein Überangebot an stationären Pflegeplätzen geben.“

Dr. Sigrid Kalfaß, Professorin an der Hochschule Ravensburg-Weingarten mit den Arbeitsgebieten Sozialplanung, Sozialarbeit und Arbeitswelt, kritisierte die einseitige Ausrichtung auf den Ausbau professioneller und stationärer Pflege: „Mit mehr Pflegeplätzen werden wir die Not nicht beseitigen. Wir brauchen nicht nur neue Strukturen, wir müssen mehr auf die Qualität schauen.“ Die Pflege sei zu sehr spezialisiert worden, so Kalfaß weiter. Benötigt würden hochflexible Unterstützungssysteme, Netzwerke und neue Formen des Zusammenlebens im Alter.

Dr. Marlies Kellmayer, Expertin des Caritasverbands der Diözese Rottenburg-Stuttgart für den Bereich Altenhilfe und Pflege mit dem Schwerpunkt stationäre Altenhilfe, ergänzte: „Im vorstationären Bereich wird sich mehr tun müssen. Die Zukunft gehört neuen Wohnformen.“ Kleine Wohngruppen und Wohngemeinschaften für alte Menschen seien noch Nischenprodukte, so Kellmayer. „Aber die nächste Generation alter Menschen wird eine ganz andere sein. Die zentrale Frage wird sein: Was wünschen sich diese Kunden der Zukunft?“

Auch Eberhard Lehmann, stellvertretender Geschäftsführer der AOK Ulm-Biberach und damit Vertreter der Kostenträger, ermunterte die Altenhilfeträger, neue Wege zu beschreiten: „Es sollten sich mehr Einrichtungen auf den Weg machen. Dafür muss das Pflegeversicherungsgesetz allerdings noch flexibler werden. Neue Wohnformen bilden sich dort im Moment noch sehr schwer ab.“

Ministerin Stolz stellte Fördergelder für die Entwicklung neuer Wohnformen in Aussicht: „Die Pflegeheimförderung läuft aus. Aus diesem Topf haben wir einen Betrag einbehalten: Dieses Geld soll in die Förderung und Begleitung von neuen Modellen gehen. Zum Beispiel in Wohn- oder Hausgemeinschaftsmodelle, bei denen die Gemeinschaft im Vordergrund steht und die Pflege von außen kommt.“

Neben der Entwicklung neuer Wohnformen war aber auch die Pflege zuhause ein zentrales Thema der Diskussion: „Pflege ist immer noch fast ausschließlich Frauensache, für viele Männer bleibt die Pflege von Angehörigen ein Tabuthema“, kritisierte Stolz in diesem Zusammenhang und betonte zugleich bei der Frage nach der Vereinbarung von Beruf und Pflege: „Es kann nicht erwartet werden, dass Frauen zu ihrem Nachteil aus ihrem Beruf ausscheiden, um Angehörige zu pflegen.“ Nötig sei daher ein weiterer Ausbau der Tagespflege, so die Ministerin. „Es wird in Zukunft mehr niedrigschwellige Angebote geben.“

Eberhard Lehmann ergänzte aus Sicht der Kostenträger: „Es sollte ein Budget geben für einen Angebotsmix aus professionellen, ehrenamtlichen und niederschwelligen Angeboten.“ Er kritisierte außerdem den Pflegebedürftigkeitsbegiff als zu sehr defizitorientiert: „Wir müssen Pflegebedürftigkeit ganz neu definieren.“

Viele neue Angebote, eventuell auch ehrenamtlich organisiert – da stellt sich automatisch die Frage, wie der Einzelne den Überblick behalten soll. „Seit 2008 gibt es einen Anspruch auf Beratung“, betonte Lehmann. Beratung gebe es zum Beispiel in den Pflegestützpunkten: „Dort wird ein Gros der Fragen beantwortet – aber auch die Krankenkassen beraten natürlich.“ Ministerin Stolz bedauerte ausdrücklich, dass der Landkreis Biberach einen Pflegestützpunkt abgelehnt habe: „Pflegestützpunkte beraten unabhängig und neutral. Das Beratungsangebot in Ulm wird sehr gut angenommen.“

Eine zentrale Frage für die Träger von Pflegeeinrichtungen ist die Suche nach Nachwuchs. Gerade in einer Region wie Oberschwaben mit annähernder Vollbeschäftigung sei es für soziale Einrichtungen schwer, Ausbildungsplätze mit qualifizierten Bewerbern zu besetzen, sagte Stiftungsvorstand Annemarie Strobl. „Das wird ein zentrales Problem der Zukunft“, stimmte Ministerin Stolz zu. „Für mich ist es ein wichtiges Ziel, die Pflegeberufe durchlässiger zu machen. Eine abgeschlossene Altenpfleger-Ausbildung müsse gleichzeitig die Fachhochschulreife bringen, so Stolz weiter, außerdem seien mehr akademische Weiterbildungsmöglichkeiten für Pflegekräfte nötig. „Und wir müssen Wege finden, Jugendliche ohne Schulabschluss an die Pflege heranzuführen.“

Bei der Frage nach besserer Bezahlung erklärte sich die Ministerin für nicht zuständig: „Das ist Sache der Tarifparteien.“ Skeptisch zeigte sie sich auch gegenüber dem Vorschlag einen verpflichtenden sozialen Jahres, um junge Menschen an den Sozialbereich heranzuführen: „Ich bin nicht glücklich über die Verkürzung des Wehrdienstes, weil diese auch die Kürzung des Zivildienstes mit sich bringt.“ Aber ein soziales Pflichtjahr sei aus ihrer Sicht verfassungsrechtlich nicht möglich, so Stolz, stattdessen plädiere sie für eine Aufwertung des freiwilligen Sozialen Jahres.

 

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